PDF

Vibrato des Musikers

Vom psychoakustischen Geheimnis des Vibratos

Die Kunst beim Neubau einer Geige, einer Bratsche oder eines Cellos ist es, bestimmte klangliche Eigenschaften durch gezielte Gestaltung der Bauweise in das entstehende Instrument „hinein zu arbeiten“. Im Folgenden soll (beispielhaft) das Zusammenklingen eines für den Erfolg einer Geige entscheidenden „Dreiklangs“ zur Sprache kommen:

  • Die Konstruktionsparameter des Instrumentes. Hier: Bedeutung des Geigenlackes
  • Die akustischen Auswirkungen dieser Parameter. Hier: Auswirkung des Lackes auf die Resonanzdämpfung
  • Die musikalische Wahrnehmung dieser Parameter. Hier: Auswirkung der Resonanzdämpfung auf das Vibrato und die Modulierbarkeit des Tones

Je größer die Resonanzdichte des Instrumentes ist (d.h. je mehr Resonanzen es pro Frequenzband aufweist) und je geringer die Resonanzen bedämpft sind, desto stärker und engbandiger sind die Pegelunterschiede im Frequenzgang des Instruments. Je stärker und engbandiger diese Pegelunterschiede sind, desto stärker wird das Vibrato des Spielers eine Amplitudenmodulation von Grundton und Obertönen hervorbringen. Für die musikalische Lebendigkeit des Vibratos ist es wesentlich, dass die periodische Frequenzverschiebung sämtlicher Harmonischer des gespielten Tones starke Amplitudenmodulationen dieser Harmonischen hervorbringt.

Zwar bewirkt der Spieler durch die Bewegung der linken Hand, also durch die periodische Verlängerung und Verkürzung der schwingenden Saite, eine periodische Frequenzmodulation. Das durch die Resonanzspitzen stark „zerklüftete“ Resonanzprofil des Instrumentes wandelt diese Frequenzmodulation zusätzlich in eine Amplitudenmodulation der Harmonischen um.

Die Folge: Der Schallpegel jedes Harmonischen nimmt durch das Vibrato periodisch schwankende Werte an. Wenn das Instrument in seinem Resonanzprofil eine große Anzahl eng benachbarter und gering bedämpfter Resonanzen aufweist, dann genügt bereits ein kleiner Frequenzshift des Vibratos aus, um die Harmonischen des gespielten Tones mit entsprechend starken Pegelunterschieden über die vorhandenen (instrumentenspezifischen und vom Musiker nicht variierbaren) Resonanzspitzen des Instrumentes periodisch „auf und absausen“ zu lassen.

Diese Amplitudenmodulation ist maßgeblich für die Vibratoempfindlichkeit und Lebendigkeit des Klanges. Psychoakustische Experimente ergaben, daß ein elektronisch manipuliertes, ausschließlich frequenzmoduliertes, Vibrato als eher synthetisch und ordinär wahrgenommen wird, wohingegen eine ausschließliche Amplitudenmodulation der Harmonischen (unter künstlicher Wegnahme der Frequenzmodulation) fast unverändert lebendig und natürlich wahrgenommen wurde [Weinreich, G. persönliche Mitteilung. Ann Arbor 2000].

Meines Erachtens ist die Ursache für dieses psychoakustische Phänomen darin begründet, daß eine reine Frequenzmodulation lediglich für eine periodische Frequenzverschiebung des in seiner Form unveränderten Erregungsmusters der Basilarmembran sorgt, wohingegen eine Amplitudenmodulationen der Harmonischen zu einer periodischen Veränderung der Form des Erregungsmusters führt. Die Erregungsmuster auf der Basilarmembran des Innenohres entstehen bekanntlich durch den eintreffenden Schall und versetzen ihrerseits die Haarzellen in Vibrationen. Dies führt entsprechend zu einem neuronalen Feuern der Haarzellen  - der Hörwahrnehmung.

Der Grund dafür, dass das Vibrieren eines Geigentones eine periodische Veränderung der Formen des Erregungsmusters hervorruft, besteht darin, dass die Erregungsmuster stark abhängig sind von den Eingangsamplituden des eintreffenden Schalles. Und genau diese Eingangsamplituden werden durch das Vibrato der linken Hand periodisch moduliert.

Inwiefern verändert sich das Erregungsmuster auf der Basilarmembran des Innenohres, wenn die Eingangsamplitude periodisch schwankt, wenn also ein amplitudenmodulierter Schall eintrifft? Es entsteht eine periodische Veränderung des Erregungsmusters – und zwar aufgrund

a) des periodischen schwankenden Flächeninhalt des Erregungsmusters: Je größer die Ampli-tude einer Frequenzkomponente, desto größer ist die Verbreiterung des erregten Bereiches auf der Basilarmembran.

b) der nichtlinearen Auffächerung der jeweils oberen Flanke des Erregungsmusters: Je größer die Amplitude einer Frequenzkomponente, desto flacher und langgezogener ist die Verbreiterung des erregten Bereiches auf der Basilarmembran nach höheren Frequenzen hin.

Mit anderen Worten: Die Formänderung des Erregungsmusters, ist stark davon abhängig, wie wirksam das Instrument in der Lage ist, aus dem Vibrato der linken Hand periodische Amplitudenmodulationen der Harmonischen des Tones zu „zaubern“. Der Musiker ist dazu nicht in der Lage: Er erzeugt (s.o.) streng genommen lediglich eine Frequenzmodulation des Tones. Die klangliche Wirksamkeit dieser Frequenzmodulation ist aber wie gesagt abhängig von den Resonanzeigenschaften des Instrumentes.

Durch eine Veränderung der Form des Erregungsmusters werden im Hörprozess des Gehirns wesentlich stärkere neuronale Erregungsunterschiede erzeugt als durch eine bloße periodische Frequenzverschiebung eines weitgehend formgleichen Erregungsmusters.

Was heißt dies für die akustische Eigenschaften des Resonanzprofils der Geige? Je höher die Resonanzdichte (Anzahl der Resonanzen pro Frequenzband) und je geringer die Resonanzdämpfungen des Instrumentes sind, desto stärker wirken sich bereits kleinste spieltechnische Variationen (durch Vibrato und Bogenstrichänderungen) auf eine Veränderung der neuronalen Erregung und damit auf eine Erhöhung der Wahrnehmbarkeit des Tones aus.

Die vermutlich darin begründete „feurige Lebendigkeit“ im Ton ist eine wesentliche Qualität guter Geigen. Hierbei haben wir es mit einem Effekt zu tun, den ich als „Wahrnehbarkeit durch Qualität“ (bzw. Tragfähigkeit durch Qualität) im Gegensatz zur bloßen „Wahrnehmbarkeit durch Intensität“ bezeichnen möchte. Diese Qualität läßt den Ton einer phantastischen Geige auch im pianissimo noch mühelos bis in die letzten Reihen „tragen“. Das Geheimnis der „Tragfähigkeit“ hat mit Sicherheit mit der hier beschriebenen „Vibratoempfindlichkeit“ guter Instrumente zu tun.

Die innerhalb einer Vibratoperiode erzeugten minimalen und maximalen Schallpegel der Harmonischen erzeugen ein unterschiedliches Erregungsmuster der Basilarmembran und damit entsprechend unterschiedliche spezifische Lautheiten. In der folgenden Abbildung 1 ist der durch das Vibrato eines musikalischen Tones erzeugte, maximale Unterschied der spezifischen Lautheit dargestellt:

Abb. 1: Erregungsmuster des Innenohres beim Hören eines gestrichenen Geigentones. Graue Kurve: spezifische Lautheit aufgrund der minimalen harmonischen Pegel innerhalb des Vibratoshifts. Schwarze Kurve: spezifische Lautheit aufgrund der maximalen harmonischen Pegel.

Beachte: Während einer einzigen Vibratoperiode (Hin- und Zurückbewegung der linken Hand) werden jeweils einmal die in der Abbildung dargestellten minimalen und maximalen Pegel erzeugt. (hier: Ton=a1; Vibratoshift=25 cent; Berechnung aus dem Resonanzprofil der Abstrahlung einer Geige von Guarneri del Gesu aus dem Jahr 1733).

Zum Hintergrund dieser Methode siehe: Schallanalyse - Messmethode

Abbildung 1 macht die vibratobedingt (genauer: die durch die Amplitudenmodulation der vibrierten Harmonischen erzeugte) unterschiedliche Kurve der spezifischen Lautheit erkennbar. Die Unterschiede sind (bei dem dargestellten musikalischen Ton) im Bereich des Grundtones besonders stark, denn im Fall der Guarneri-Geige liegt die Frequenz der stark abstrahlenden T1-Corpusmode in unmittelbarer Nähe des Grundtons a1 (Grundfrequenz = 440Hz). Über eine gesamte Vibratoperiode des gespielten a1-Tones wechselt die spezifische Lautheit (und damit die Erregung des Innenohres) also periodisch zwischen den beiden dargestellten Kurvenformen. Dabei rufen die einzelnen Harmonischen die spezifischen Werte der Lautheit nicht simultan, sondern i.d.R. zu unterschiedlichen Zeitpunkten hervor. Dies liegt daran, daß die über das Resonanzprofil „hin- und hervibrierten“ Harmonischen die innerhalb ihres Vibratointervalles liegenden Pegelmaximal- und -minimalwerte des Resonanzprofils zu unterschiedlichen Zeiten überstreichen. (Im oben dargestellten Beispiel schwankt die vibratobedingte Modulation der Gesamtlautheit (bei gleichbleibender Dynamik) also nur dann zwischen L=29.2 sone und L=24.3 sone, wenn alle Harmonischen gleichzeitig die lokalen Maxima des Resonanzprofils der Geige überstreichen würden).

Von der Beschaffenheit des Resonanzprofils des Instruments im Bereich der dem Ton zugehörigen Harmonischen hängt es ab, wie sehr sich die spezifische Lautheit (und die Gesamtlautheit) eines Tones innerhalb einer Vibratoperiode verändert, wie stark der Ton also musikalisch modulierbar ist. Um diese Resonanzbeschaffenheit im Einzelnen darzustellen, stellt Abbildung 2 die vibratobedingten Differenzen der spezifischen Lautheiten sämtlicher spielbarer Töne (wieder anhand des gemessenen Resonanzprofils der ‚Guarneri del Gesu 1733‘) dar.

Dieses von uns entwickelte „musikalische Modulationsdiagramm“ zeigt, daß die vibratobedingt erzeugten Schwankungen der spezifischen Lautheit über den gesamten Spielbereich beträchtlich sind. Wie erkennbar wird, sind die Schwankungen in den verschiedenen Frequenzgruppen (ERB-Skala) unterschiedlich stark.

Abb. 2: Darstellung der Vibratoempfindlichkeit (und damit der Modulierbarkeit) einer Geige von Guarneri del Gesu. Vertikale Achse: chromatische Tonleiter (Frequenzen des zugehörigen Grundtones). Horizontale Achse: „Frequenzachse des Innenohres“ (ERB-Skala)

Das Diagramm zeigt, in welchem Ausmaß es das dargestellte Instrument in seinem gesamten Spielbereich (!) erlaubt, durch das Vibrato nicht nur die Gesamtlautheit, sondern auch die „Klangfarbe“ zu modulieren. Diese musikalische Qualität ist, wie ebenfalls erkennbar wird, keineswegs bei allen Tönen in gleichem Ausmaß vorhanden. Die Unterschiede in den Formen der weißen Flächen zeigen, daß durchaus nicht jeder Ton gleich „empfindlich“ und durchaus nicht im gleichen Bereich der Basilarmembran auf das Vibrato des Spielers reagiert. Jeder Ton stellt also eine eigene „klangliche Welt“ dar.

All die beschriebenen Zusammenhänge von invariablem Resonanzprofil und frequenzvariablen, „vibrierten“ Harmonischen fordern einen äußerst komplexen Verarbeitungsvorgang unseres Gehörs – unser neuronales Netzwerk wird ungeheuer beschäftigt. Die Folge: Wir sind von der Wirkung derart „lebendiger“ Töne „gefesselt“.

Handwerkliche Konstruktionsparameter, die der hier begründeten Forderung nach schmalbandigen Resonanzen und nach Gebieten hoher Resonanzdichte entsprechen, sind v.a. im jeweiligen Konzept der Geigenlackierung zu suchen. Denn die Lackierung des Instrumentes nimmt maßgeblich auf die Dämpfungswerte der einzelnen Resonanzen Einfluß. Siehe dazu unseren Artikel „Der musikalische Geigenlack“.

PDF